Es muss nicht immer Michelin oder Gault-Millau sein, zumal die Kriterien dieser ehrenwerten Guides einen bestimmten Typ von authentischer Trattoria gewöhnlich unter den Tisch fallen lassen.

Neapelliebhaber wissen z.B. instinktiv, woran man ein Lokal mit bodenständiger cucina casalinga erkennt. Erstens sollte der Fernseher laufen, auch wenn keiner hinschaut. Zweitens die Griffe der Messer aus holzfarbener oder bunter Plastik sein, was darauf hinweist, daß hier unnötige Ausgaben vermieden werden und sich Betreiber und Gäste senza fronzoli (ohne Schnickschnack) ehrlicher Hausmannskost widmen.

Der Wein darf gerne in Plastikflaschen (womöglich gar mit Cola-Aufdruck) abgefüllt sein, ein untrügliches Zeichen, daß er selbst gekeltert ist oder von befreundeten Bauern stammt. Wichtig: der Stilbruch, so einen ehrlichen Landwein in Stielgläsern auszuschenken, ein Faux pas, den unsere Italiener in Deutschland und noch schlimmer unsere Griechen mit Retsina häufig begehen, wird vermieden. So ein Wein gehört erst in eine dickwandige Glaskaraffe und dann in einen einfachen Glasbecher.

Bouteillen und Flaschenweine sind nur auf Wunsch erhältlich, verstauben aber mit angegilbten Etiketten auf Regalen als minimalistischer Wandschmuck. Dazu kämen eventuell noch grelles Neonlicht und Antifliegenfäden vor der Tür. Auf diese Stilelemente muss man in der Cantinella verzichten. Dafür gibt es eine uralte Holzbalkendecke und ein noch Ende April glimmendes Feuer im offnen Kamin. Kurzum, an diese Kriterien mußte ich denken, als ich in dem kalabresischen Uferstädtchen Cirella bei Diamante übernachtete, um einen Artikel über die von Kennern weltweit geschätzten Zitronatzitronen aus dem nahen Bergort S. Maria del Cedro zu schreiben.

Ich erlebte Musterbeispiele verschwindender süditalienischer Authentizität – schließlich gehörte Kalabrien zum Königreich Beider Sizilien, das von Neapel aus regiert wurde. Das Hotel Palazzo Ducale genügt sich selbst mit seinem Meerblick und großzügigen Garten und beläßt die geräumigen Zimmer in nobler Schlichtheit. Und in der rustikalen Trattoria Cantinella, die sich als einziges auch in der Vorsaison geöffnetes Speiselokal erwies, stimmte alles, um vertrauensvolle Behaglichkeit zu erzeugen. Keine modische Tellerdeko, dafür ein Antipasto mit lokalem Pecorino, hervorragenden pikanten Salamisorten und luftgetrocknetem Filet sowie selbst eingelegten und mit sonnengetrockneten Tomaten aromatisierten Auberginenstreifen. Hausgemachte fileja mit selbst gesammelten Pilzen, die kräftig genug gewürzt waren, um sich gegen die eingedrehte Hartweizen-Pasta zu behaupten.

Jahreszeitliche Alternative mit echtem Wildspargel – tagsüber hatte ich an den Autostraßen immer wieder Bauern mit sonnengegerbten Gesichtern und bunten prall gefüllten Plasikkübeln gesehen, die die aromatischen grünen Wildsprossen anboten. Und schließlich kam ein Kaninchen, das nicht wie so oft im Mezzogiorno in Tomatensugo ertränkt, sondern fein süßlich mit Karotten, Knoblauch und Thymian geschmort war. Hier kann jemand einfach kochen und wunderbar abschmecken! „Wir kaufen nichts außer Parmesan und Bratöl“ erzählt mir der Padrone, während die letzten Gäste ihren Amaro trinken und seine Frau neben ihm sitzt und vom Service einen Moment rastet. Es sei sanstrengend, aber das ist nun einmal mein Qualitätsmaßstab für ein Lokal, das sich sapore di Calabria, das Aroma Kalabriens auf sein Schild schreibt!

Reich beschenkt mit Zitrusfrüchten vom hauseigenen Garten wurde ich in die Nacht entlassen. Doch nicht deswegen schreibe ich diese Zeilen sondern weil ich mich bei dieser kulinarischen Zeitreise in ein allen Moden trotzendes Familienlokal voll selbstverständlicher kalabresischer Identität und Gastlichkeit wohl wie lange nicht mehr gefühlt habe.

A CANTINELLA
Via Armando Diaz 14
I–87023 Cirella
Tel. 0039 347 6191508