Direkt am Grenzübergang nach Italien: 2019 kürte das – eigentlich nicht besonders frankophile – Restaurant Magazin das Mirazur zum besten Restaurant der Welt. Da sind die Erwartungen an das auch vom Michelin mit drei Sternen ausgezeichnete Restaurant hoch.
Zugleich bekräftigt diese Wertung einen kulinarischen Paradigmenwechsel, der von dem jungen Alain Ducasse im Louis XV in Monaco eingeläutet wurde. Nämlich den Aufschwung und Prestigegewinn des mittelmeerisch-provençalischen Kochstils gegenüber der klassischen nordfranzösischen Sahne-Butter-Cognac-Saucenküche. Ducasse errang 1990 sensationelle Drei Sterne für ein Lokal, das weder in Paris noch im Burgund lag, schrieb einen hymnischen Bestseller Méditerranée und bildete einen jungen argentinischen Koch mit italienischen Wurzeln aus: Mauro Colagreco, Chef des Mirazur.

Der Besuch startet – auf Voranmeldung – mit einer nachmittäglichen Führung durch den hauseigenen Obst- und Gemüsegarten, der sich vis-à-vis vom Établissement den steilen Berg hinaufzieht. Der Starkoch als Gärtner ist eine Auftrittsidee, die immer populärer wird.
Abends werden die Gäste zunächst vom voiturier empfangen und dann mit Meerblick an rohen Holztischen placiert, wie es einst das Noma in Kopenhagen eingeführt hat. Daß darauf ein Obst-Paprika-Gesteck arrangiert ist, soll auf das Thema fruits einstimmen, wobei die einzelnen Früchte in einem Restaurant dieser Preisklasse ruhig etwas gärtnerischer und optisch weniger supermarktkonform aussehen dürften. Dafür ist das aromatisierte Cedratwasser, das unaufgefordert gereicht wird, eine aparte Huldigung an die Agrumentradition Mentons.

Das Menu (noch 380 €!) startet mit einem ideenreichen Reigen von mignardises. Crunchrolle vom messergeschnittenen Tatar mit kandierter Zitronatzitrone, Sesamstick mit foie gras-Füllung, Kürbiskerntörtchen oder winzige Schiffchen Fischsashimi aromatisiert mit Agrumen und einem Hauch Ingwer. Mauro Colagreco beherrscht ein Prinzip der französischen Hochküche aus dem Eff-Eff: die Ästhetisierung der Speisen durch Geometrisierung. Eine nette biographische wenn auch sättigende Idee ist, daß erst dann frischgebackenes Sauerteigbrot serviert wird. Das Rundstück weist eine ähnlich eingekerbte Form auf, wie es in Guardiagrele in den Abruzzen, woher Colagrecos Familie einst auswanderte, noch heute üblich ist. Die dazu gereichte Butter ist hingegen klassisch französisch, wenn auch nicht mediterran.

Zart und duftig geht es weiter mit einem jodisierten Hauch: glasiertes Chaud-Froid von der Auster mit Pünktchen von Birnenmousse, dekoriert mit Côte-Azurblauen Blüten. Es folgt eine hochelegante Rosette von karamellisiertem Butternutkürbis, die in körniges Senfeis gehüllten Seewolf verdeckt – Mauro Colagreco will und kann auch bewußt nordfranzösisch komponieren und variieren.

Zurück in den Midi: Blutorange & Langostino als tema con variazioni: Das Krustentier tritt einmal gegrillt mit Sauce maltaise auf, einmal als Carpaccio mit ausgestochenen Apfelsinenaspiksternen und einmal – das from nose-to-tail-Prinzip nicht nur auf Fleisch anwendend – wird sein Corail mit Stückchen von der Blutorange zum erfrischenden Mini-Salat angerichtet.

Hummer ist ein Must der teuren Küche. Im Mirazur wird homard nur zitiert in Form eines solitären mit ihm gefüllten Raviolo, der von Passionsfruchtsaft umschmeichelt wird. Das Gericht ist regionaler, als es zunächst den Anschein hat. Ravioli gelten als ligurische Erfindung – eine Kochlandschaft, die Mauro Colagreco mit seinem farbenfrohen Riviera-Stil immer auch im Auge hat. Sie haben aber auch eine französische DNA: Ravioles sind eine Spezialität der Dauphiné, der nördlich der Provence gelegenen Grenzregion zu Italien.

Ein Eyecatcher, der spontan zum Posten reizt, ist der löffelwarme flan marin, der in der ausgehöhlten Schale einer warzigen Apfelsinenrarität serviert wird, die ihrerseits im Panzer eines Taschenkrebses aufgebockt ist, der auf ein üppiges Bouquet von Zitronenblättern gebettet ist. Bis auf den köstlichen flüssigen Pudding mit konzentrierter Meeresfrüchtebouillon alles non edible food, aber nicht Steine oder Sand wie bei manchen Kollegen, sondern bis auf das Blattwerk organische und ästhetische Schalen von bereits verzehrten Produkten. Originell!

Ohne Fleisch geht es in der französischen Hochküche nicht. Duo von der Taube: Die geröstete Keule bewußt am Knochen zum Anfassen serviert und damit französischen Rôtisseurtraditionen entsprechend. Dazu auf fauvistischen Fruchtspiegeln ein Oval: heller die Hälfte aus dicht geschichteter oignon rose de Menton, blutrot die Taubensuprême, beides wieder geometrisierend aneinandergeschmiegt.

Für mich am faszinierendsten war die Inszenierung des Desserts: im Marmormörser wurde am Tisch eine Tapenade (oder wollen wir es pesto nennen?) aus ligurischen Taggiasca-Oliven und Blättern zerstoßen und dann mit cremigem Oliveneis serviert. Der Clou: Die ungewöhnliche glace wird mit Kombucha von der Menton-Zitrone angegossen. Italy meets France, Liguria meets Menton! Nach diesem fulminanten Schlussakkord ist das brave Pistazientörtchen fast schon überflüssig. Trotzdem merci.

Das Mirazur und die Küche von Mauro Colagreco bietet viel Abwechslung, reichlich Kolorit fürs Auge. Sein spielerischer und verspielter Streifzug durch Moden und Trends, die souverän beherrscht werden, sorgt lieber für enorme Variationsbreite, als eine strikte regionale Idee durchzuziehen. Mauro Colagreco präsentiert sich als virtuoser Alleskönner: Mal mediterran, mal nordfranzösisch angehaucht, cucina povera wie das Bauernbrot oder sogar kurzzeitiges Kokettieren mit Molekularküche wie bei Kombublättchen und Bluorangensternchen. Seinem gesamtfranzösischen Portefeuille fügt er eine elegante persönliche und lokale Note durch Betonung der Agrumen und Akzentuierung von Italianismen hinzu.

Der Argentinier kommt mit bemerkenswert wenig Fleisch und eigentlich auch kaum ausgefallenen Produkten aus. Die big three Gänseleber, Hummer und Kaviar werden nur punktuell zitiert wie z.B. in einer Fischschnitte mit Keta-und Tapioca-Perlen. Dennoch bekennt sich der hochbesternte Chef in der Komposition seiner Gänge zu einer modernen Version der französischen Klassik. Seine Gerichte lösen sich nicht in Pünktchen und Kügelchen auf, sondern bewahren bei aller Detailbesessenheit eine klare kompositorische Hierarchie mit jeweils einer Hauptzutat, die meist mehr als ein einziger Gabelbissen ist. Mauro Colagreco hat mutig Farbe in die französische Hochküche gebracht und scheut auch nicht vor poppigen Tönen zurück: Das Thema Früchte und der Einsatz von daraus gezogenen Obstsaucen hält sein Menu vieler vieler Gourmet-Überraschungen eher locker zusammen. Locker auch – das sei lobend erwähnt, die unaufdringliche Umsorgung durch den polyglotten Service, passend zu einem Schauplatz des grand tourisme.

MIRAZUR
30 Avenue Aristide Briand
06500 Menton
France
www.mirazur.fr